Ich möchte heil werden
Heute ist ein Tag, an dem ich mir wünschte, dass es mir anders ginge. Besser. Ich bin ihrer so müde – meiner Nichtlebensgestaltung. Der Leere und gleichzeitigen Schwere. Dem Aus- und Durchhalten. Der Zwänge und Rituale. Der Selbstverletzung, dem Hungern-Müssen. Dem Erbrechen. Allem. Meinem So-Sein. Meinem Da-Sein. Und ich wünschte mir Heilung. Als ein Versprechen an mich selbst, an das eigene Leben.

Ich weiß, dass man Ziele positiv formulieren sollte, damit sich der Fokus darauf richten kann, was man erreichen mag, anstatt darauf, was NICHT mehr sein soll. Doch wie ihr sehen werdet, fällt mir das schwer. Weil das, was nicht mehr sein soll, viel präsenter ist, meine tägliche Routine. Weil es mehr Gewicht an.

Ich möchte liebevoller zu mir sein können, mir selbst und anderen verzeihen. Ich möchte mich im Spiegel ansehen und mögen. Man soll mich nicht mehr anstarren, ich möchte mich nicht mehr wie ein Monster fühlen.

Ich möchte den Tag nicht mehr mit dem verzweifelten Gedanken daran beginnen, wie ich nur durch die Zeit kommen soll. Ich möchte mehr Kraft haben. Ich möchte Treppen steigen und Fahrrad fahren und ohne Schmerzen liegen und sitzen und stehen und laufen können. Ich möchte nicht mehr bei 30 Grad frieren. Ich möchte keine Angst davor haben, am Morgen nicht mehr aufzuwachen. Ich möchte mir nicht mehr weh tun müssen. Mein Körper hat bereits so sehr Schaden genommen, er ist deutlich gezeichnet, so schlimm verwundet. Ich möchte, dass es reicht. Dass ich aufhören darf, mich selbst zu zerstören und beginnen kann, mich zu erhalten.

Ich möchte nicht mehr entbehren, verzichten, mich arrangieren müssen. Ich möchte essen können und trinken und schlafen. Und Genießen. Singen, tanzen, flirten, küssen, lachen. Mich trauen, ins Schwimmbad zu gehen. Frei sein. Und spontan. Freunde treffen, in den Urlaub fahren. Grenzen überwinden. An Lebensqualität gewinnen.

Ich möchte mich leichter fühlen und lebendiger. Sinn erleben. Positiver sein. Mein Denken verändern. Grübeln stoppen. Weniger Resignation, weniger Sorgen, weniger Albträume, weniger Angst, mehr Zuversicht. Spüren, dass sich das Weitermachen lohnt. Weil es unsagbar großartig sein kann, am Leben zu sein. Sehen, dass da noch mehr geht. Deutlich mehr. Ich möchte Suizidgedanken nicht länger als einen tröstend-letzten Ausweg betrachten, sondern mein Leben und mich bejahen. Und ich möchte ein Versprechen einhalten, dass ich meiner Mutter gab, einen Tag ehe sie starb: Ich werde nicht an meiner Erkrankung sterben.

Ich möchte nicht mehr allein sein. Ich wünsche mir einen Partner und das Mama-Werden. Allein der Gedanke daran zerreißt mein Herz. Weil da so unendlich viel Sehnsucht ist. Ein riesengroßes Vermissen. Ich möchte heim fahren und meine Familie wiedersehen, meinen Vater, meine Oma und meinen Bruder umarmen. Weil ich sie lieb habe.

Ich möchte nicht mehr davonlaufen, sondern ankommen. Und mich geschützt fühlen, geborgen und geliebt. Ich möchte Liebe weitergeben. Und ich wünsche mir Hilfe. Dass da jemand ist, der an mich glaubt. Mir sagt: „Wir schaffen das zusammen.“ Bitte gebt mich nicht auf.

Ich möchte heilen dürfen, gesund werden. So sehr. Und zugleich habe ich eine mindestens ebenso große Angst, dies nie zu sein.

Man muss für sich selbst leben wollen
Was hält uns am Leben? Stellt ihr euch manchmal diese Frage? Und damit meine ich nicht die Luft, die wir zum Atmen brauchen oder unsere Lungen oder unser Herz. Vielmehr ist es vielleicht die Frage danach, was uns IM Leben hält, was uns innerlich trägt, was uns in schweren Zeiten einen Grund gibt, nicht aufzugeben, eine Aufgabe. Eine Aufgabe gegen die Aufgabe sozusagen.

Ich mag an dieser Stelle gern eine meiner Lieblingspersönlichkeiten zitieren:
„Die meisten haben eine falsche Vorstellung davon, was wahres Glück ist. Man erreicht es nicht durch Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, sondern durch Hingabe an eine würdige Lebensaufgabe (Helen Keller)“.

Und ich glaube, es braucht mehr als „nur“ den Wunsch, zu leben, es braucht einen Entschluss, der auch Momente des Haderns überdauert und Bestand hat. Der auch gegen äußere Umstände „gewappnet“ ist. Damit meine ich zum Beispiel den Verlust von sogenannten „Festhaltern“, also von Dingen oder Menschen, die uns üblicherweise Halt gegeben habe. Es ist wichtig, dass es im Außen etwas gibt, das uns Kraft schenkt.

Wir brauchen Menschen um uns herum, die uns in den Arm nehmen, die uns sagen, dass sie uns lieb haben, die uns ermutigen, Wege aufzeigen, ihre Hand reichen. Wir brauchen Dinge, die uns gut tun – Menschen, Tiere, Sonnenlicht, ein Lied, Bücher, Tanz, in Pfützen springen, auf Bäume klettern, schaukeln gehen, Blumenduft, Kinderlachen, eine Umarmung.

Aber es braucht noch etwas anderes, ein Mehr. Es braucht einen inneren Anker, der uns auch dann noch trägt, wenn die eben genannten – mindestens so wunderschönen wie wertvollen – Dinge einmal nicht da sind. Oder sie da sind, wir sie aber nicht sehen können. Manchmal ist das so. Und woran halten wir uns dann? Was kann uns der innere Anker sein? Ich glaube, die Antwort darauf ist so vielfältig, wie es Menschen gibt. Und manche „erinnern“ sich an ihre eigene Antwort auf diese Frage durch Äußeres. Zum Beispiel hängen sie sich Fotos an die Wand oder tragen eines in ihrem Portemonnaie. Oder es zieren Motivationskärtchen ihre Pinnwand. Vielleicht tragen sie auch ein bestimmtes Schmuckstück oder einen anderen Talisman bei sich oder sogar auf der eigenen Haut in Form einer Tätowierung. Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt. Und das ist wichtig. Weil wir alle verschieden sind und unsere ganz eigene Geschichte mit uns bringen. Und dann wiederum denke ich, dass es gleichzeitig um noch etwas Grundlegenderes geht, nämlich um eine innere Haltung, den oben schon erwähnten Entschluss, zu dem wir alle zu finden haben. Ein jeder für sich. Auf unterschiedliche Weise. Und verschiedenen Wegen. Unsere Wege mögen sich unterscheiden, manchmal benötigt die Suche ganz viel Zeit und Kraft. Manchmal braucht es Umwege. Aber worum es geht, ist eine LEBENsentscheidung – im wahrsten Sinne des Wortes. Eine Entscheidung, zu leben. FÜR das Leben. Nicht aus Gefälligkeit, nicht für andere, nicht für ein Außen. Sondern um seiner selbst Willen.

©(Text) Lily Louise/Zauber-WORTE-Zauber, https://zauberwortezauber.wordpress.com/