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David hatte von dem Projekt Klang meines Körpers gehört. David, der nach einem langen, einsamen Weg durch seine Magersucht Unterstützung und therapeutische Hilfe in der Suchtambulanz der Caritas Neuss fand.
Auch er wollte sich endlich sichtbar machen, wollte seinem Bauchgrammophon endlich eine Stimme geben – viele Jahre nachdem er seine Magersucht überwunden hatte. So entstand das Jungenmodul, das seit 2012 die Ausstellung sehr bereichert, das auch Jungs Mut machen will, das zeigen will, dass Essstörungen kein reines Frauenthema sind.
Genaueres über das Projekt erfährst du unter Projektinfos – Klang meines Körpers.

Und David hatte noch sehr viel mehr zu sagen, sein Innerstes quoll über vor unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen.
Diese packte er in kurze Texte und Gedichte, von denen wir Dir hier einige zeigen dürfen:

Gefangenschaft
Ich wünschte mir, ich könnte mich mögen.
Mir die Hand geben und mir auf die Schulter klopfen.
Akzeptiere nicht das Bild, das mir der Spiegel zeigt.
Laufe weg von mir, stehe mir im Weg.
Muss mit mir leben, kann mich nicht verlassen.
Bin an mich gekettet, eingepfercht ins Ich.
Es ist schwer dem Feind aus dem Weg zu gehen, der man selber ist.

Feindfreund Waage
Er öffnete die Augen. Die Nacht verließ die Welt, erste Sonnenstrahlen bezeugten den nahenden Tag. Der Bestätigungswecker hätte sein Signal um 5.30 Uhr gegeben. Natürlich war er bereits geraume Zeit vor dem Erklingen des Signaltons erwacht. Wie jeden Morgen. Kontrolliertes Schlafen ermöglichte ihm, die Zeit zu formen, sie zu bestimmen. Auf dem Weg ins Bad bemerke er ihn. Allmorgendlich wurde er von seinem Feindfreund erwartet. Die Messlatte des Tages starrte ihn mit den noch nicht vorhandenen Zahlenaugen an. Sie schlief. Vielmehr, sie schlummerte nur, jederzeit bereit ihr Urteil abzugeben. Ein subjektives Aneinanderreihen von Zahlen stand bereit, den Tag zu bewerten. Nach Ablauf eines streng ritualisierten Verhaltens stand der Zweikampf unmittelbar bevor. Der nun folgende Schritt war Hass und Liebe zugleich. Die Waage würde ihm sagen, wie der erwachende Tag werden würde, wie er sich fühlen würde. Was durfte er, was war ihm streng verboten? Mit klopfendem Herzen bestieg er die Digitalwaage. Er schloss die Augen. Nur nicht hinsehen. So konnte er den Zeitpunkt des Urteils noch ein wenig bestimmen. Dass die Waage über ihn richten würde, war unabänderlich, aber mit geschlossenen Augen war er der Bestimmer. Angst stieg in ihm auf. Der gestrige Abend zog an seinem geistigen Auge vorüber. Was hatte er gegessen, was getrunken, wo gab es Schwachstellen, wo war er nicht kontrolliert? Er rechnete alles durch, um eine vorsichtige Schätzung des Gewichts anstellen zu können. Er betete, dass das Gewicht und damit der Tag gut werden würden.

Loslassen
Nennt mich nicht nur Sohn,
schaut mir in die Augen
und nicht auf mich herab.
Ich bin ich, nicht ewig Kind.
Die Zeit steht niemals still,
auch wenn man sie als Eltern allzu gerne stoppen will.
Ich kann gehen,
Ich kann stehen,
ich kann denken,
Ihr braucht mich nicht länger lenken.
Erklärt mir nicht das Leben,
lebt Eures und nicht meins.
Öffnet endlich Eure Augen,
seht endlich mich und nicht das Kind von einst.
Lang genug habt Ihr mir Euren Weg gezeigt.
Nun wird es Zeit, dass jeder sich befreit.
ich brauche endlich Luft zum Atmen,
kann nicht mit Euch auf die Rückkehr des Gestern warten.
Lasst mich los, habt keine Angst,
wir werden niemals Fremde sein.
Familie ein Leben lang,
nur weil ich geh,
bleibt ihr nicht auf ewig jetzt allein.

ICH bin David. David ist ICH.
Lange Zeit habe ich geguckt, wie ich sein muss, habe immer die anderen gesehen, aber mich nicht. Habe mich verglichen. Ich musste lernen, dass keiner mich besser kennt als ich. Niemand kann wissen, wie es mir geht, wenn ich nicht rede.
Alle reden, also rede ich jetzt auch.
Ich zeige der Welt meine Welt. Vielleicht hat meine Welt andere Farben.
Na und, sie ist auch bunt!
Ich lache, ich weine, ich atme, ich lebe!
Manchmal ist der Graben im Kopf gar nicht so breit, wie er erscheint,
und der erste Schritt ist klein.
Mach ihn! Lauf los!